- gotische Skulptur Italiens
- gotische Skulptur ItaliensMit dem Erstarken der Städte unter den Staufern traten seit dem 13. Jahrhundert die reichen Stadtstaaten Italiens nicht nur in der Politik, sondern auch als Auftraggeber der Künstler neben die Kurie und die europäischen Königshäuser. Ihr neues Selbstbewusstsein legitimierten sie - wie die Kaiser und Könige - mit einer angeblich in die Antike zurückreichenden Geschichte. Erst dieser kulturhistorische Hintergrund macht die zwischen 1250 und 1315 stattfindende kontinuierliche Auseinandersetzung der Bildhauerei Italiens mit der antiken Skulptur verständlich.Richtungweisend waren dabei Nicola Pisano, sein Sohn Giovanni und sein Schüler Arnolfo di Cambio. Dass Nicola Pisano, der um 1250 aus Apulien nach Pisa kam, die für die staufische Hofkunst grundlegende Antikenrezeption vortrefflich beherrschte, beweist schon sein erstes großes Werk in der Toskana, die 1260 datierte und signierte Kanzel des Baptisteriums zu Pisa. In der Arca di San Domenico (1264-67) zu Bologna, jenem marmornen Heiligenschrein für den heiligen Dominikus, kopierte der Meister teilweise sogar ganze Szenen von verschiedenen antiken Sarkophagen, die in Bologna oder Pisa bis heute nachzuweisen sind. Ein völlig anderer Nicola Pisano tritt uns in der Sieneser Domkanzel (1265-68) entgegen: Hier ist die Rezeption antiker Formen auf ein Minimum reduziert. Stattdessen dominieren eine Eleganz und Schönlinigkeit, die die profunde Kenntnis französischer Skultpur voraussetzen. Da Nicola diese französische Bildsprache ohne jegliche Fehlinterpretationen oder Missverständnisse anwendet, lässt sich eine Reise durch Frankreich vermuten, auch wenn sie bisher nicht nachgewiesen werden konnte.Im Zusammenhang mit der Sieneser Domkanzel begegnet uns erstmals Nicolas Sohn Giovanni, der dort unter der Leitung des Vaters arbeitete. Die Verträge weisen ihn eindeutig als Lernenden und nicht als Meister aus. Erst bei der 1278 vollendeten Fontana Maggiore zu Perugia kann von gleichberechtigter Zusammenarbeit zwischen Vater und Sohn die Rede sein. Giovanni steigerte die Relieffigur zur Dreiviertelfigur: Mithilfe tiefer Schatten versuchte er seinen Reliefs die Wirkung von vollrunder Skulptur zu geben. Zwischen 1284/85 und 1296 Dombaumeister in Siena, errichtete Giovanni die untersten Geschosse der Westfassade, die er mit Standbildern von Propheten und Sibyllen schmückte. Das Grandiose und in der Kunst der Gotik nie wieder eingesetzte Gestaltungselement dieser Fassade beruht auf Giovannis Idee, in eine konservativ gehaltene Nischengliederung Figuren einzustellen, die sich herausbeugen und einander die Köpfe zuwenden, als wollten sie sich, die Distanz überwindend, Botschaften zurufen. Die Fassade erhält dadurch den Charakter eines riesigen Heiligenschreins.Zwischen 1298 und 1301 schuf er unter Mitarbeit des Tino di Camaino die Kanzel für Sant'Andrea in Pistoia. Im Gegensatz zu den Kanzeln seines Vaters, die trotz ihrer Fülle an Figuren jeder Einzelnen eine individuelle Form zubilligen, arbeitete Giovanni bei seinen Pistoieser Skulpturen mit versatzstückartigen Kompositionselementen. Wo immer möglich, werden die Figuren mit prachtvollen Röhrenfaltenkaskaden, schwungvollen Schüssel- und Hakenfalten ganz nach französischer Manier geschmückt, ja überhäuft, was dem Werk insgesamt eine bis dahin in der Skulptur Italiens unbekannte Eleganz verleiht. Der individuelle Ausdruck der einzelnen Figur tritt dahinter zurück. Dagegen ist in der Kanzel für den Dom in Pisa (1302 bis 1311), deren Reliefs eher an gekonnt hingeworfene Pinselzeichnungen als an Werke der Bildhauerei erinnern, alles auf das Nötigste reduziert. In der erschütternden Nüchternheit ihrer Formensprache und der beklemmenden, den Betrachter mitreissenden Dramatik hat die Pisaner Kanzel nichts Vergleichbares im Kunstschaffen der italienischen Gotik. Bereits Giorgio Vasari hatte keinen ästhetischen Zugang mehr zum künstlerischen Anliegen Giovanni Pisanos. Er kritisierte das Pisaner Werk als völlig missraten; es sei ein Jammer um das viele Geld, das es gekostet habe.Nicola Pisanos zweiter großer Schüler, Arnolfo di Cambio, war maßgeblich an der Arca di San Domenico in Bologna und an der Sieneser Domkanzel beteiligt. Im Gegensatz zu Nicola Pisano interessierte er sich in einer völlig neuen Weise für die Drehung der Figur im Raum. Folglich mied er den figurenreichen Stil seines Meisters und konzentrierte sich auf Reliefs mit wenigen, aber dafür umso aussagekräftigeren Skulpturen. Seine Figuren für den Stadtbrunnen zu Perugia (1281) lässt er, inspiriert durch römische und etruskische Liegefiguren, Bewegungen ausführen, als wolle er das vom Betrachter anatomisch und ästhetisch Nachvollziehbare an die Grenzen des Akzeptablen treiben. Wie bahnbrechend diese Gedanken waren und welch starke Impulse von ihnen für die Kunst um 1300 ausgingen, zeigt sich in der Malerei: Selbst die individualisierende Figurenauffassung von Giotto oder Pietro Lorenzetti wäre ohne die Kompositionsschemata von Arnolfo di Cambio schwer vorstellbar.Nicola und Giovanni Pisano oder Arnolfo di Cambio war daran gelegen, ihre Werke kraftvoll durchzumodellieren, um sie so voluminös und allansichtig wie nur möglich wiederzugeben. Ihre Werke leben geradezu aus dem Spiel von Licht und Schatten. Die Abkehr von diesen Regeln vollzogen zwei Sieneser Bildhauer: Lorenzo Maitani, ab 1310 Dombaumeister in Orvieto, und Tino di Camaino, seit 1315 »Leiter« der Dombauhütte zu Pisa. Am Ende der künstlerischen Auseinandersetzung beider mit den Gestaltungsmitteln ihrer Malerkollegen Duccio und vor allem Simone Martini stand das erzählende, in subtilen Schichten aufgebaute Flachrelief. Im Gegensatz zu Lorenzo Maitani spielte für Tino di Camaino räumliche Tiefenwirkung kaum mehr eine Rolle. Er bevorzugte vielmehr die Aufreihung nebeneinander gestellter Figuren, denen er meist blockartige, ja kubische Umrissformen verlieh. Von Werk zu Werk kombinierte er seine stereotypen, aber zutiefst schönlinigen Formen in endlosen Varianten. Mit dem 1315 errichteten Grabmal für Kaiser Heinrich VII. im Chor des Domes zu Pisa wurde Tinos Stil führend in der Toskana, nach 1315 auch in ganz Mittel- und Süditalien: Die mächtigen Städte der Guelfenliga belohnten Tinos Frontenwechsel in den Kämpfen mit den Ghibellinen, indem sie ihm die Anfertigung der Grabmäler der Kirchenfürsten in Siena und Florenz sowie aller Grabmäler des Neapolitaner Königshauses anvertrauten.Einzig Giovanni di Balduccio folgte nicht der malerischen, ja zweidimensionalen Richtung, sondern weiterhin Giovanni Pisanos kraftvollen, ihre Dreidimensionalität in keiner Weise leugnenden Figuren. Jedoch verlieh er, beeinflusst durch die französische Gotik, seinen Werken eine Eleganz, die sehr zum Koketten neigt. Einen völligen Verlust des Interesses an Tiefenräumlichkeit und dreidimensionaler Wirkung erlebte die toskanische Skulptur schließlich nach der Pest von 1348/49. Nun setzte sich jene Strömung durch, welche die Heiligkeit der Bilder durch einen Neokonservativismus in der Formensprache wiederherzustellen suchte und bereits seit den 1320er Jahren in der Malerei spürbar gewesen war: Andrea Orcagnas Marmortabernakel in Orsanmichele zu Florenz (1352 bis 1360), der erste große Auftrag für die Bildhauerei nach dem »Schwarzen Tod«, ist im Grunde ein riesiges Gemälde in Stein.Dr. Johannes Tripps
Universal-Lexikon. 2012.